Zwischen Gottesglauben und Koks-Tütchen

Trier. Das Mosel Musikfestival präsentiert Leonard Bernsteins „Mass“ in Trier. Die bildmächtige Inszenierung bricht mit einigen Traditionen. Von Dr. Rainer Nolden - Trierischer Volksfreund 5.8.2018

FOTO: Artur Feller / Mosel Musikfestival
FOTO: Artur Feller / Mosel Musikfestival

Die Show beginnt bereits vor der Vorstellung. Vor der Kirchentür nimmt ein Straßenmusikant Platz, packt sein Saxophon aus und stellt den Instrumentenkasten vor sich hin in der Hoffnung auf Spenden für sein Spiel. Doch während man noch nach einer Münze fischt, fällt der Blick auf die Noten, die der Musikant aufgeschlagen hat: Es ist Leonard Bernsteins „Mass“, die kurz darauf im Altarraum von St. Maximin zelebriert wird, und der Saxophonist ist einer aus der „mass“, was auch Menge bedeutet, die an dieser Feier teilnehmen werden.

 

„Mass“ ist ein Dokument des Glaubens und der Glaubenskrise gleichermaßen. Ein gottesgewisser Zelebrant gerät im Verlauf dieser Messe, die dem katholischen Ritus nachempfunden ist, aber ständig aus dessen starren Regeln ausbricht, immer mehr ins Zweifeln und in die Verzweiflung.

 

Zunächst gelingt es ihm noch, die Menge um sich zu scharen und für sich zu gewinnen. Das sind die Mitglieder des Landesjugendchors Rheinland-Pfalz (Einstudierung: Andreas Ketelhut), die als Jugendgruppe auf Klassenfahrt, ausgestattet mit Koffern, Rucksäcken und Handys, auf Besichtigungstour in der Kirche landen und der Botschaft des Zelebranten verfallen.

 

Verunsichert werden sie durch den Auftritt des „Street Chorus“, der hier reduziert ist auf die lettische Vokalgruppe „Framest“(Beate Zviedre, Ruta Duduma, Mikus Abaronins und Janis Kirsis bewegen sich traumwandlerisch treff- und stilsicher zwischen Jazz und Klassik).

Ein Spektakel, das für minutenlangen Applaus in Trier sorgte: Leonard Bernsteins Mass. Besonders Dima Orsho als Zelebrant überzeugte.  FOTO: Florian Schlecht
Ein Spektakel, das für minutenlangen Applaus in Trier sorgte: Leonard Bernsteins Mass. Besonders Dima Orsho als Zelebrant überzeugte. FOTO: Florian Schlecht

Sie geben die mondänen Verführer, ausgestattet mit Laptops, schicken Kleidern und reichlich Rauschgift, das einer von ihnen tütenweise unters Volk wirft, und ihrerseits die Jugendlichen in Zweifel stürzen, auch die Glaubensgewissheit des Zelebranten ins Wanken bringen, später aber eine wundersame Katharsis durchlaufen und selbst zu Gläubigen werden.

 

Der Zelebrant selbst – ein Novum in der fünfzigjährigen Aufführungsgeschichte der „Mass“ – ist eine Frau, hier dargestellt von der syrischen Mezzosopranistin Dima Orsho.

In ihrer wunderschönen weichen Stimme (die freilich auch durchaus hart und aggressiv werden kann) und ihrem Gesangsstil verbindet sich das Beste zweier Welten: die traditionelle Musik ihrer Heimat und die abendländische Klassik. Das macht diese Sängerin ziemlich einzigartig und genau passend für die „Mass“-Melange, die mit Elementen zahlreicher Glaubensrichtungen ein Plädoyer für das friedfertige und gleichberechtigte Nebeneinander aller Religionen hält.

 

Das mag man, zumal angesichts der aktuellen Verhältnisse, für einigermaßen naiv halten. Genau das haben Kritiker dem Komponisten seinerzeit auch vorgeworfen. Aber die Gefühlswelt dieser „Mass“ ist eine Spiegelung von Leonard Bernsteins persönlicher Befindlichkeit zur Entstehungszeit des Werkes um 1970: Der Komponist haderte mit seinem Land und seinen Repräsentanten, dem ein verbrecherischer Republikaner (Richard Nixon) vorstand und das in einen aussichtslosen Krieg (Vietnam) verstrickt war.

 

Die Komposition, ein Auftragswerk von Jacqueline Kennedy zur Eröffnung des John F. Kenndy Centers for the Performing Arts in Washington, war nicht zuletzt ein Therapeutikum für Bernstein, um seiner Depression zu entfliehen. So ist es nur folgerichtig, dass „Mass“ zwischen unschuldigem Kinderglauben und tiefer Verzweiflung changiert. Dass am Ende der Glaube siegt (in Gestalt eines Kindes, hier der junge Lette Oscars Kalnins mit glockenhell-reinem Sopran), ist aber doch eher ein frommer Wunsch des Komponisten als jemals erreichbare Wirklichkeit.

 

Der mischt in seiner Partitur alles, was er selbst dirigiert und komponiert hat: ein bisschen Gustav Mahler, ein bisschen Dimitri Schostakowitsch, moderne Romantik mit gemäßigter  Moderne.

 

Unvermittelt findet man sich in den Auseinandersetzungen der Streetgangs aus der „West Side Story“ wieder, und hier und da blitzt ein „frahlich“ auf, jener ausgelassene Tanz aus der Klezmer-Musik.

 

Das alles hat der libanesisch-polnische Dirigent Bassem Akiki voll im Griff. Er leitet nicht nur mit fester Hand das auf knapp zwanzig Musiker reduzierte Landesjugendblasorchester, sondern auch die wuseligen Chorist(inn)en, von denen einige mit ausgesprochen zukunftsträchtigen Stimmen zu beeindrucken wissen. Und als Zugabe präsentiert er  mit der Solistin ein anrührendes arabisches Kirchenlied.

 

Für Choreographie und Regie zeichnen die Lettinnen Rezija Kalnina und Linda Kalnina verantwortlich. Mögen die Bilder, die sie erfinden, sich nicht sofort auf Anhieb erschließen: Zusammen mit den Lichteffekten entwickeln sie einen unentrinnbaren Sog und eine Eindringlichkeit, der man sich schwerlich entziehen konnte. Und kaum war die „Mass“ zu Ende, sprangen alle Zuschauer von ihren Sitzen auf. Aber nicht, um fluchtartig die Kirche zu verlassen, sondern um minutenlang zu jubeln.

 

Wie sagte Festival-Intendant Tobias Scharfenberger angesichts der „nur“ 300 Konzertbesucher zu Beginn der Vorstellung: „Alle, die heute Abend nicht hier sind, werden es schwer bereuen.“ Recht hatte er.